Titel
Russische Portraits. Geschlechterdifferenz in der Malerei zwischen 1760 und 1820


Autor(en)
Napp, Antonia
Reihe
Studien zur Kunst Band 13
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Wenn sich die Geschichtswissenschaft seit geraumer Zeit zunehmend als „Bildwissenschaft“ verstehen will, so weisen doch die Resultate dieses Bemühens häufig enttäuschende Mängel auf. Die vor einigen Jahren modische Rede vom „Lesen von Bildern als Text“ konnte und kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Historiker dafür ausgebildet sind, mit Texten zu arbeiten und die Sprache der Bilder für sie nicht so einfach zu verstehen ist. Wer Hilfe bei Kunsthistorikern sucht, muss oft enttäuscht aufgeben. Dies einmal, weil die Fragestellungen der Wissenschaften selbstverständlich andere sind und beispielsweise Auseinandersetzungen mit Theorien zur Ästhetik dem Geschichtswissenschaftler nur begrenzt weiterhelfen. Aber auch, weil allzu viele kunsthistorische Studien sich auf reine Beschreibung und impressionistische Eindrücke beschränken. Hilfe beim „Lesen“ von Bildern ist von solchen Arbeiten nicht zu erwarten.

Wer ähnliche Erfahrungen gemacht hat, wird das Buch von Antonia Knapp nicht nur einmal mit großem Interesse durchlesen, sondern vermutlich immer wieder zur Hand nehmen. Sie untersucht russische Porträts der „Sattelzeit“ und fragt nach Konstruktionen und Darstellungen von Geschlechterdifferenz. Entscheidend ist dabei die umfassende Quellengrundlage: Sie untersucht insgesamt 2000 Bilder und beschreibt davon etwa 150 Gemälde ausführlich. Der serielle Ansatz macht es erst möglich, Aussagen zu treffen und vor allem Entwicklungen darzustellen. Farbgebung, die Funktion des Lichts, Ausdrucksformen und Physiognomie, vor allem aber Motive und den Personen beigefügte Attribute (Rose, Zirkel, Bücher etc.) werden ausführlich analysiert und eingeordnet. Anders als bei vielen bildwissenschaftlich ambitionierten Historikern stehen hier also die Bilder tatsächlich im Vordergrund und bieten eine echte Interpretationsgrundlage, sind also nicht nur Illustration von bereits Gewusstem.

Antonia Napp unterscheidet in ihrem Untersuchungszeitraum vier Phasen: Zwischen 1760 und 1790 kann eine auffallende Vielfalt der Darstellungsformen festgestellt werden, einen zentralen Maßstab allerdings bildet das „portrait d´apparat“. Diese im Frankreich des 17. Jahrhunderts entwickelte Form des repräsentativen Porträts erfreut sich im Russland des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Dabei werden einerseits klassische Techniken und Motive der westlichen Malerei verwandt. Andererseits sind Spuren der russischen Ikonen- bzw. Parsuna-Tradition zu erkennen und tragen zu einem neuen, hybriden Typus bei, von Napp als „Doppelstandard“ bezeichnet. Insbesondere Frauenporträts erscheinen oft formalisiert und schematisch. Sie folgen dabei der einen Maßstab schaffenden Physiognomie der Herrscherin Elisabeth. Insgesamt jedoch beeindruckt die Feststellung, dass Frauen- und Männerporträts oft dieselbe Formsprache verwenden, gleiche oder ähnliche Attribute beinhalten und sich (wenn überhaupt), nur in Details, bei sehr genauem Hinschauen, unterscheiden.

Die zweite Phase ist kürzer, auf die 1790er-Jahre beschränkt, und der hier entscheidende Typus wird von Napp als „Das empfindsame Porträt: Die Dame im Park“ bezeichnet. Während in den vorangegangenen Jahrzehnten vor allem die Kleidung von großer Bedeutung war, werden nun Hintergrund und Umgebung intensiver und vor allem vielfältiger gestaltet. „Neue Natürlichkeit“ und „neue Privatheit“ sind die entscheidenden Schlagworte. Das englische Porträt wird zum Vorbild, ein Gegensatz zum französischen höfischen Repräsentationsbild entsteht. Dazu gehört auch, dass die Gesichter individueller werden und das Alter der Person verraten. In diese neue Darstellungsform sind erstaunlich viele Motive und Topoi einfügbar. So werden Frauen als Göttinnen dargestellt: Diana, Venus, aber auch Minerva. Überdeutlich wird das Motiv von der Frau als Verkörperung der Natur, teilweise, aber nicht unbedingt verbunden mit dem bereits früher bekannten femme-savante-Konzept. Sentimentalismus verbindet sich mit aufklärerischer Schöpfungskraft. Und schließlich erscheint auch das neue Motiv der Mütterlichkeit und der Kleinfamilie auf diesen Bildern. In dieser Zeit beginnen sich Männer- und Frauenporträts in einer Weise zu unterscheiden, die vorher nicht bekannt war.

Drittens sind „neue Ideale im Frauenporträt nach 1800“ festzustellen: Hausfrau, Gattin, Mutter. Die Frau wird nun zunehmend in einer familiären Rolle dargestellt. Nicht nur in den neu konzipierten Familienbildern wird dies deutlich, sondern auch im interessanten Motiv des Medaillons: Allein dargestellte Frauen tragen oft ein sehr auffällig gestaltetes Medaillon mit dem Abbild ihres Mannes am Dekolleté. Napp weist leider nicht darauf hin, dass dies eine bezeichnende Veränderung der personellen Bezüge indiziert: Medaillons waren in repräsentativen Porträts des 18. Jahrhunderts durchaus üblich, doch war es dort der Herrscher/die Herrscherin, auf die Bezug genommen wurde. Die primäre Identifikation der Dargestellten ändert sich also: von der Hofdame zur Ehefrau.

Und schließlich die vierte Phase: nach 1812 entstehen aus den vorher entwickelten Motiven neue, feste Bildtypen. Dabei ist die höfische Dimension nun endgültig verschwunden. Frauen werden nun primär als „schön“ dargestellt, Männer dagegen in soldatischer Uniform. Die von Napp postulierte nationale Funktion der Frau passt in den historischen Kontext, kann aber an den Bildern selbst nicht deutlich gemacht werden.

So überzeugend die Bildanalyse in vieler Hinsicht ist, so stellen sich doch einige Fragen. Zunächst die Bezeichnung „russische Porträts“; diese nationale Kategorie verlangt nach einer Diskussion. Die Bildsprache wird zu großen Teilen aus Westeuropa übernommen. Viele Maler sind Westeuropäer oder zumindest dort ausgebildet. Und nicht wenige der Bilder wurden auch – auf Reisen oder längeren Aufenthalten – in Frankreich oder England gefertigt. Darüber hinaus erscheint zumindest die Frage angebracht, ob die Interpretationen der Motive, von nobilitierendem Beiwerk oder Physiognomien tatsächlich so international gültig sind wie es hier dargestellt wird. In Bezug auf Begriffe, Werte und Institutionen wurde immer wieder festgestellt, wie komplex Transferprozesse funktionieren: Die Übertragung des gleichen Wortes vom Englischen ins Russische (oder, selbstverständlich, auch umgekehrt) bedeutet nicht, dass die Ideen dahinter auch die gleichen sein müssen. Weshalb also sollte die vom „natural portrait“ übernommene Rose einem russischen Maler oder Betrachter notwendigerweise das Gleiche sagen wie dem englischen Publikum?

Schließlich sind die zentrale Fragestellung und die Grundthese nicht unproblematisch. Es fällt auf, wie häufig Napp feststellt, dass Motive, Mode, Attribute, Format und Bildaufbau von Männer- und Frauenporträts sich mehr ähneln als dass sie sich unterscheiden. Dies gilt insbesondere für die Phase von 1760 bis 1790, durchaus in Ansätzen aber auch für spätere Epochen. Sogar die Physiognomie ähnelt sich, und Napp stellt selbst fest, dass das gleiche Gesichtsmodell für einen Mann ebenso wie für eine Frau verwendet werden konnte. Die Fragestellung und die axiomatische Hypothese der Studie aber, „dass Geschlechterkonstruktionen in die Definition von Kunst und Künstler eingeschrieben sind“ (S. 19), verbieten eine stärkere Betonung dieser Feststellung. Napp sucht allzu angestrengt nach Unterschieden und neigt dazu, die Ähnlichkeiten unter den Tisch fallen zu lassen. Dies fällt insbesondere für die anfänglichen Ausführungen zur Parsuna des 17. Jahrhunderts auf. Hier wird eine einzige Frauendarstellung mit – vermutlich tendenziös ausgewählten – Männerporträts verglichen. Die These, Frauen seien maskenhaft, austauschbar dargestellt, während Männer bereits früh individuelle Züge aufwiesen, kann nur aufrechterhalten werden, wenn die verschiedenen ikonenhaft-schematischen Parsuny wie z.B. die des Prinzen Skopin-Schuiskii ausgeblendet bleiben.

Die Überbetonung des Gender-Aspekts lässt auch die Kategorie des Sozialen aus dem Blickfeld schwinden. Dabei hätte es die Forschungsliteratur durchaus erlaubt, einen zumindest punktuellen Vergleich zum Genre des Kaufmannsporträts zu unternehmen und auf diese Weise sowohl das Adjektiv „russisch“ als auch die Kategorie des Geschlechts zu problematisieren.

Wenn aber bei Napp die zuweilen überzogene Betonung der Unterschiede nicht allzu stark vor die Aussagen zu konkreten Bildern tritt, dann ergibt sich ein hochinteressantes Panorama: Während im 18. Jahrhundert Frauen und Männer in vieler Hinsicht ähnlich gestaltet wurden und die Kategorie des Geschlechts eher im Detail begegnet (z.B. eine bestimmte Hand- oder Armhaltung), sehen wir seit dem Ende des Jahrhunderts neue Elemente, die neue Geschlechterrollen zeigen. Dies entspricht neuen Konzepten von Öffentlichkeit und Privatheit, wie sie sich in Westeuropa ebenso wie in Russland durchsetzten, es entspricht auch neuen, bürgerlichen Familienidealen, wie sie in Russland von Paul und Nikolaus I. propagiert wurden.

Insgesamt handelt es sich hier um ein ausgesprochen schön gestaltetes, gut geschriebenes und methodisch wie empirisch informatives Buch.

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